Die Sicht aus dem Pappbecher

Ein Monolog der immer noch ziemlich kleinen Pflanze, den sie hielt, als ich ihr erzählte,
dass drei von vier meiner Beratungskunden „Wachstum“
als Hauptbedürfnis ihrer Kunden definieren.

„Du also dieser Mensch. Der da verschlafen morgens nach der Teekanne fingert und sich wünscht, er hätte am Abend davor die Teebeutel bereits entwirrt und weggeworfen. Der rausgeht und wiederkommt, den Bauch mit Sahne und Milch gefüllt, die Haare nass vom Regen. Der in der Nacht auf dem Balkon steht und ein Butterbrot isst, obwohl er bereits Zähne geputzt hat.

Ich die Pflanze auf dem Tisch. Ich trinke Wasser, ich esse Erde. Ich bleibe hier. Ich sortiere Nährstoffe, ich drücke meine Wurzeln gegen diesen Pappbecher. Ich hole jeden Krümel Wertvoll aus dieser alten Erde heraus.

Ich denke nicht über Wachstum nach. Ich wachse.

Du sagst, ihr habt ein Bedürfnis nach Wachstum. Dabei habt ihr ein Bedürfnis nach Sex und nach sexy. Nach schnell-und-glänzend-anders. Oder nach sofort-ohne-Anstrengung-woanders. Weiterkommen! Nicht stehenbleiben! Alles in uns entwickeln!

Ich habe ein so deutlich intensiveres Zellengefühl als du. Verstehst du? Ein Gefühl für meine Zellen, für meine Bausteine, für diese winzigen Blöcke, die ich staple und enzymisch verkette, um ein weiteres winziges gerolltes lachsfarbengerändertes Blatt aus zipfeligen Häuten herauszuschieben.

Ich spüre, während du nach Worten fummelst. Ich kenne meine geheimen Prozesse.

Ich will auch größer werden. Weil ich noch so viele gute Blätter in mir angelegt habe, vielleicht sogar ein Ästchen. Weil ich so gute Zellen habe. Du weißt nicht mal, was du entwickeln willst, du leidenschaftstrunkener, unvernünftiger, zweibeinig-wechselhafter Mensch!

Du darfst mir bei meiner intimsten Arbeit zusehen. Aber meist siehst du doch nichts. Lerne erstmal deine Augen zu nutzen, bevor du über Wachstum nachdenkst.“

Ah! Die Arroganz der jungen Pflanze.




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