Der alte Mann und das Kästchen

Letztes Wochenende wurde mein Großvater neunundachtzig.

Seine vier Kinder schenkten ihm ein Tablet, so ein iPad-von-Motorola, einen sehr flachen und sehr modernen Mini-Computer also.

Und es blieb natürlich an mir hängen, das Ding seniorengerecht einzurichten. Also Textgröße und Lautstärke aufgedreht, ein hübsches Landschaftsbild in den Hintergrund, alles potentiell Verwirrende gelöscht. Dann neue Apps gesucht: Sudoku, Solitaire, Kreuzworträtsel gegen die tägliche Langeweile. Die Tagesschau für das Aktuelle, eine Nachthimmel-App für die Neugierde, Google Maps zum virtuellen Spazierengehen ...

Kurz bevor wir los sind, habe ich ihm noch eine E-Mail-Adresse eingerichtet und auf der Autobahn Richtung Norden schickte ich sie an ein paar Verwandte — sie sollten dem Oppa doch bitteschön einen Überraschungs-Geburtstagsgruß schreiben.

Als er das Teil auspackte, wurde er bleich.

Legte es zur Seite und nahm noch einen Schluck Cointreau. Machte abweisende, wedelnde Bewegungen mit beiden Händen, kniff die Augen zu, versuchte das Päckchen im Garten liegenzulassen. Ich trug es hinter ihm her.

Er habe doch gar kein Internet, sowas ist doch teuer, und eine Verschwendung. Er habe doch gar keinen Computer, an den man das Teil anschließen könne.

Seine Finger, die so gut löten und drechseln und Modellboote bauen und Himbeeren in Rum einlegen, sollen jetzt über eine Plastikfläche streichen um einem Tablet Befehle zu geben — damit er eine Patience legen kann? Ich verstehe seine Reaktion.

Wir schauten das Wetter über die Tagesschau-App, was den Oppa zwar anerkennend nicken ließ, aber dann war auch wirklich gut.

Nach dem Abendessen holte ich das Päckchen nochmal hervor. In Ordnung, seufzte der Oppa, schauen wir es nochmal an. Wir besprachen die Stromlage und welches Kabel man wo reinsteckt. Gut! beschloss der Oppa und wollte den Deckel wieder draufmachen. Moment! rief ich. Eins muss ich dir noch zeigen.

Hier bei dem Briefumschlag, drück da mal drauf. Und dann geschah das, was ich schon gar nicht mehr erwartet hatte: die müden Oppa-Augen leuchteten. In diesem seltsamen Kasten steckten Glückwünsche und Bilder von Kindern und Enkeln und Freunden, und zum ersten Mal ergab der Kasten eine Art von Sinn.

Horrido!

Warum ich dir das alles erzähle? Weil's so klar ist und wir es doch immer wieder vergessen: Es geht in jedem Kästchen und in jeder digitalen Oberfläche letztendlich nur um die Kommunikation.

Darum, dass ich etwas hören will, was mir etwas bedeutet und du mir etwas erzählen kannst, was für mich wichtig ist.

Und trotzdem verbringen wir so viel Zeit mit den Kinkerlitzchen, den Oberflächen, den Werkzeugen — dem wie — und nur die letzten Minütchen am Tag mit dem was wir erzählen.

Leute, lernt von meinem Großvater und seinem neuen Kästchen! Es gibt Brücken über die dicksten Gräben.

Und was machte der Oppa? Schrieb die Namen derjenigen, die ihm eine Mail geschrieben hatten, auf einen Zettel auf. Damit er sich bedanken könne.




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