Machst du mir mal ganz leidenschaftlich eine Schorle?

Der folgende Satz wäre für 99% der Weltbevölkerung normal, aber mit den Händen einer Person getippt, die eine Art von online Unternehmen führt, klingt er wie ein Geständnis:

Die Arbeit, von der ich lebe, habe ich nicht aus Leidenschaft begonnen, und ich mache sie nicht aus Leidenschaft.

Ich schreibe Gedichte. Ich zeichne. Die einzige offizielle Ausbildung, die ich je gemacht habe, war an der Goldschmiedeschule Pforzheim. Ich habe Handwerk und Kunst im Sinn und im Blut.

Aber ich wollte Geld verdienen, denn ich wollte (und musste), dringender als alles andere, unabhängig sein. Und da goldschmiedische Fähigkeiten sich auf die Schnelle nicht so gut in Unabhängigkeit übersetzen lassen, habe ich gelernt, meine Design- und Kommunikationsfähigkeiten im Internet einzusetzen. (Das ist natürlich eine Verkürzung, hier findest du eine etwas ausführlichere Version der Geschichte.)

Das mache ich bald zwei Jahrzehnte später immer noch. Ich tue diese Arbeit mit großer Freude, immenser Sorgfalt und sehr viel Verantwortung. Mir ist und bleibt es unglaublich wichtig, dass du dir die Website erstellen kannst, die dich unterstützt, dir Freude macht und nach dir riecht.

Ich kämpfe leidenschaftlich, mit meinen Mitteln, mit dir, für deine Unabhängigkeit. Denn für die Freiheit habe ich immer Leidenschaft. Wie auch für meine Freund:innen und Familie, für's Wandern und für gute Bücher, für's Zeichnen und Schnitzen und natürlich für Rosinenbrötchen.

Aber ich hege keine tiefen, alles überwältigenden, emotionalen Impulse für das Bauen von Websites, und ich bin auch ganz froh drum.

Ich erwarte nicht, dass zum Beispiel mein Schneider leidenschaftlich näht. Ich erwarte, dass er es geschickt tut, und ich wünsche ihm, dass er es mit Freude tun kann. Aber ich brauche keine Leidenschaft in meinem neuen Reißverschluss.

So wie du vermutlich auch keine leidenschaftliche Unterstützung beim Bau deiner Website brauchst. Sondern vermutlich eher eine liebevolle, sorgfältige, gründliche Unterstützung.

Warum erwartet dann eine komplette (online) Kultur von uns Selbständigen, dass wir nur das tun, was unsere Leidenschaft uns vorgibt? Warum wird uns immer wieder der abgedroschene Tipp gegeben, bei unserer Leidenschaft anzufangen und nur der zu folgen?

Ich glaube, hier hat sich ein Begriff unverhältnismäßig stark durchgesetzt, und das führt zu einem etwas undifferenzierten Blick.

Was ist mit den Selbständigen, die nicht genau spüren, was ihre Leidenschaft ist? Oder eine Leidenschaft haben, die sich nicht gut zur Erwerbsarbeit ummünzen lässt? Oder keine haben? Oder viel zu viele unterschiedliche? Sind die zu einem einfach nicht ganz so erfüllten Leben verdammt?

Was ist mit denen, die einen Teil ihrer Arbeit nicht so leidenschaftlich lieben wie andere Teile? Haben die dann versagt? Was ist mit denen, die handwerkliche Zufriedenheit dem Rausch der Leidenschaft vorziehen? Was ist mit denen, die nicht die Wahl haben, ihrer Leidenschaft nachzugehen, weil sie zum Beispiel jemanden pflegen? Können die nie gut und glücklich in irgendwas werden?

So ein riesengroßer Käse.

Diese ganze Leidenschaftsduselei ist außerdem eine praktische Möglichkeit, dem Gespräch über das Geld und das Genug-Verdienen und das Überhaupt-Verdienen auszuweichen. Denn wenn jemand etwas leidenschaftlich gerne macht, muss man der Person ja nicht unbedingt auch noch ein Geld zahlen, oder? (Achtung: Ironie).

Es ist völlig okay, Geld verdienen zu wollen. Es ist völlig okay, Geld verdienen zu müssen. Es ist völlig okay, unabhängig sein zu wollen, und es ist sinnvoll und wunderbar schön, auf eine Art Geld zu verdienen, die anderen hilft und zu dir und deinen Werten passt und an der du wächst.

Du brauchst nicht noch ein Leidenschaftskrönchen, um dieser Haltung einen Wert zu geben. Du bist eine erwachsene Person, und du musst deine Arbeitswahl nicht mit der Begründung „das ist meine totale Leidenschaft!“ rechtfertigen.

Denn deine Entscheidungen? Gehören dir. Das sage ich dir VOLLER INBRUNST.




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